Anachronox präsentierte eine der eigenartigsten und faszinierendsten Science-Fiction-Welten, die man je in einem Spiel erlebt hatte. Die titelgebende Stadt Anachronox - eine von urzeitlichen Außerirdischen erschaffene riesige, künstliche Welt mit schwebenden Plattformen, seltsamen Winkeln und einer ständig präsenten Kriminalität - fühlte sich an wie eine Mischung aus Blade Runner und The Fifth Element, aber mit deutlich mehr Humor. Die Geschichte pendelte also geschickt zwischen Film-Noir-Detektivplot, Planet-Hopping-Abenteuer und Galaxiebedrohung.
Die verschiedenen Planeten, die man bereist, waren alle einzigartig gestaltet: von der bürokratischen Hölle Democratus (ein Planet, der tatsächlich zum Teammitglied wird!) bis zum Urlaubsparadies Sunder mit seiner bizarren Sonnenschutz-Religion.
Sylvester "Sly" Boots, ein abgehalfterter Privatdetektiv, war kein typischer Held - und genau das machte ihn interessant. Seine Begleiter waren sogar noch ausgefallener: Fatima, seine verstorbene Sekretärin, die als KI in seiner PAL-Armbanduhr weiterlebte; Grumpos, ein mürrischer alter Wissenschaftler; Rho, ein Supermodell mit Kampfkunst-Fähigkeiten; Dr. Rho'Tah, ein zwielichtiger Alien-Arzt; PAL-18, ein Roboter mit Persönlichkeitsstörungen; und natürlich ein ganzer Planet als Teammitglied.
Was Anachronox so besonders machte, war die ungewöhnliche Kombination: Es nutzte die Quake 2-Engine für ein rundenbasiertes RPG im Stil japanischer Konsolen-Rollenspiele. Die Kämpfe mit ihren speziellen Angriffen erinnerten an Final Fantasy, waren aber in eine völlig andere Art von Geschichte eingebettet. (Wenn man also behaupten würde, das Kampfsystem in Clair Obscur: Expedition 33 sei eine Revolution, handelt es sich um einen Irrtum oder sogar eine vorsätzliche Täuschung).
Die Mischung aus trockener Noir-Atmosphäre, absurdem Humor und kosmischen Bedrohungen fühlte sich frisch an - manchmal verwirrend, aber immer unterhaltsam. Und nicht zu vergessen die unerwartete Wendung, die den Spieler nach dem vermeintlichen finalen Kampf staunen und das Geschehen in etwas anderem Licht erscheinen ließ.
Das Gameplay überzeugte durch seine Vielfältigkeit, die sich aus folgenden Komponenten ergab:
Rundenbasiertes Kampfsystem: Drei Partymitglieder gleichzeitig; Positionierung im 3D-Raum relevant (Nah-, Fern-, AOE-Angriffe).
Kombinations-"Materia" (sog. Fluxes) erlaubten Zauberfusionen.
Adventure-Elemente: Jede Figur besaß ein persönliches Gadget (Boots’ Lockpicks, Stilettos Hacking, PAL-18s Sprachadapter); kleine Rätsel à la "Schalte vier Terminals in 30 Sekunden" lockerten die Stadtabschnitte auf.
Level-Design: Hub-Welt Anachronox City als Drehscheibe. Von dort per Shuttle zu linearen Story-Planeten. Backtracking nötig, aber dank Schnellreisen erträglich.
Mini-Games & Nebenquests: Light-Gun-Shooter, Skateboard-Parcours, sogar ein vollwertiges 2D-RPG im Spiel ("Quantum Leapfrog"). Legendäre Nebenmission "Chutile Docks" offenbarte mehr Plot als so mancher Hauptstrang in zeitgenössischen RPGs.
Auf den Screenshots wirkte das alles kantig; in Bewegung aber setzten die filmischen Kamerafahrten und Lippensynchronität (für 2001 exotisch!) Akzente.
Im Übrigen war das Jahr 2001 eine RPG-reiche Zeit. Zeitgleich erschien "Baldur’s Gate II - Thron des Bhaal" und "Arcanum", was "Anachronox" in Fachmagazinen den Platz streitig machte. Zudem endete Anachronox wie es aussah mit einem Cliffhanger: Das Spiel sollte Teil 1 einer Trilogie sein; Ion Storms Schließung 2001 machte diese Hoffnung zunichte.
Alles in allem war Anachronox ein Unikat. Trotz einiger Mängel war es eines der kreativsten RPGs seiner Zeit. Es vereinte gekonnt westlichen Humor mit japanischer RPG-Mechanik und schuf eine unvergessliche Science-Fiction-Welt. Es war ein Highlight des Jahres 2001 und ein unterschätztes Meisterwerk, das seiner Zeit voraus war. Wenn Final Fantasy auf Douglas Adams trifft und das Ganze von id-Tech 2 angetrieben wird - dann landet man irgendwo in der Nähe von Anachronox...